Freitag, Juni 15

Halbakt-Clown.Artist

Den Blick nach rechts gewandt, verharrte er in der endlosen Leere eines braun-schwarzen Flecks. Gewiss, er nahm ihn wahr. Die scharfe Kontur, mit der sich tausend winzige Moleküle von ihrem zartrosa Hintergrund abgrenzten. Über die Jahre hatten sie sich zu einem Kreis eingefunden, aus dem mehrere Haare wie Leuchttürme emporragten, als wollten sie die Aufmerksamkeit auf dieses Stück mutierter Zellen lenken. Ja, er nahm ihn war. Aber das, was von diesem Fleck in seinem Kopf zurück blieb, war doch nicht mehr als die Summe miteinander verknoteter Sinneswahrnehmungen, war nicht mehr als pure Physiologie, ein Hammer, der die Seiten mechanisch schwingen, aber keine Farben mehr entstehen ließ. Keine Phantasie, keine Erregung, kein Gefühl. Das, was er sonst auslöste, dieser von der Natur hingetuschte Tintenklecks unterhalb ihrer Lippen, war gegangen. Verschwunden. Hatte sich seiner entzogen durch die kleine Kammer des Korridors, der er nie Aufmerksamkeit schenkte. Sie war in die Wand geschlagen, nur einige Zentimeter Innereien, verdeckt von einer lindgrünen Eichentür, deren Schloss mehr Zierde denn Schutz ausstrahlte. Für Diego war sie nie mehr als ein Hort für Konserven, ein Platzhalter irgendwo zwischen Küche und Badezimmer, eine Sackgasse. Man konnte durch sie weder hinein noch hinaus, man blieb. Eine geschlossene Gesellschaft, die er tief verachtete, der er aber Maria zuliebe grundsolide gelogene Sympathie entgegenbrachte, so lange wie ihr Leberfleck das auslöste, was er seit einigen Wochen nicht mehr tat. Erst jetzt, wo dieses vertraute Bild sich von ihm entfremdet hatte, erst jetzt nahm er wahr. Die Wahrheit.
Dreiundachtzig Kilogramm Filet verteilten sich auf Stahlfedern, die ihrer gewohnten Arbeit nachgingen. Es tropfte wie beim Schlächter. Maria lag regungslos danieder. Ihr Blick klebte an der Decke wie der Kaugummi an seinen ausgelatschten Budapestern, deren Hinterkappe keinen Halt mehr gaben. Diego hasste Schnüren. Es war ihm eine lästige Alltagshandlung, die ewig gleiche Rille, die der Arm des Plattenspielers monoton entlang fuhr. Hineingleiten, schwerelos, ohne Anstrengungen – das war seine Maxime. Es gelang ihm nicht immer. Unregelmäßigkeiten, er suchte verzweifelt danach, nach einem Riss, dem Abdruck eines zerquetschten Insekts, Leben. Alles was er finden konnte, war konsonant, war tot. Die Schwerkraft ließ Marias fleischige Brüste an ihrem hageren Korpus nach unten hängen. Ihre rechte Hand baumelte vom Bett, die Beine wie Streichhölzer in einer Schachtel gestreckt. Und wie deren Zündköpfe waren ihre Nägel rot. Wie eine seiner Patientinnen. Doch sie war nicht seine Patientin. Viel mehr lagen sie beide hier auf diesem Bett, dessen gegilbtes Laken einem Gehirn ähnelte. Windungen, tiefe Fissuren, ein Graben, der es in zwei Hälften teilte. Diego war entrückt. Betont lässig hatte er das linke Bein auf dem rechten Knie fixiert und ließ seinen Fuß fröhlich kreisen als döse er auf einer frisch gemähten Sommerwiese, den Stängel einer Kornblume zwischen den Zähnen. Den muskulösen Oberkörper hatte er aufrichtet. Ihr zugewandt, offen. Als wollte er den linken Arm wie eine Handbremse lösen und auf Marias Seite rollen im nächsten Moment, in der nächsten Minute, Stunde, am nächsten Tag, im nächsten Jahr. Einzig, die Bremse ließ sich nicht lösen, die Finger gruben sich zwischen Gestell und Matratze tief hinein. Die Repeattaste des kleinen Kassettenspielers am Kopfende des Bettes hatte sich seit Monaten schon in der Plastikapplikation verfangen. In my secret life. In seinem Kopf erklang nur noch Cohens pechschwarze Stimme, diese Warteraummusik mittelmäßiger Großstadtzahnärzte. Als würden sie das musikalische Gesamtwerk eines Künstlers nicht anerkennen wollen, stießen sie fortwährend aus kleinen Lautsprecherboxen dieses eine Lied in die Stuhlrunde aus. Und die wippte hypnotisch auf den weißen Freischwingern mit, die akkurat am mittigen Zeitschriftenschrein ausgerichtet waren, vertieft ins gedankliche Vakuum. Maria wippte mit, nahm mit ihrem Leben in dieser dehospitalisierten Gruppe Platz. Eines Tag meinte Diego ein kaum vernehmbares „Mein rechter, rechter Platz ist leer, ich wünsche mir den Diego her“ aus Marias zuckersüßem Mund zu vernehmen. Die kirschroten Lippen, denen sie mit einer blitzschnellen Zungenbewegung den Glanz einer Eisbahn verleihen konnte, knabberten an seinen Ohrläppchen und ein verführerisch-warmer Abendhauch wollte ihn beinahe setzen lassen. Diese verdammten Wiederholungen. Diese Stupidität. Diese Regelmäßigkeiten. Wo war der Löwenzahn, der durch den Asphalt dringt, wo war Peter Lustig? Und da verstand er. Der linke Arm würde der Richtung der anderen Glieder nicht mehr folgen, er würde im Bettkasten stecken bleiben. Sie würden ihm folgen, von rechts nach links. Die Umkehrung dessen, was Maria gewohnt war. Die Heimkehr Diegos zu dem, was er gewohnt war und vergaß. Zu einem neuen Fleck, mit neuer Kontur, mehr als pure Physiologie, Leben eben. Marias war seit langem erloschen. Das, was noch übrig blieb, nahm Diego letzte Nacht.

Text zu Halbakt-Clown. Artist. (Max Beckmann)

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Hallo.
Ich mochte mit Ihrer Website seule-pensee.blogspot.com Links tauschen

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