Mittwoch, Juli 9

Chişinău



Die Kurzgeschichte ist veröffentlicht in: schreib - zeitschrift für junge literatur (Vol.14) / ISSN 1862-7153 /
http://schreib-potsdam.blogspot.com/2008/02/werbung-in-eigener-sache.html

Die Zahl der dunkelgrünen Kipplaster wuchs zwar von Jahr zu Jahr, doch der schmale Streifen zwischen Fahrbahn und Fassaden schluckte auch weiterhin die wuseligen pietoni, ja, es wurde auf unmerkliche Weise immer gemütlicher. Mit dem gewellten Blech ihrer Ladeflächen säumten sie dünenhaft den bulevard Stefan cel Mare, der ihr unerschütterliches Zentrum war. Schon im Morgengrauen strömten sie hektisch aus in die umliegenden stradas zu ihren Einsätzen, und keiner konnte sich dem Schauspiel dieser motorisierten Ameisen entziehen, da der graublaue Gestank der alten Diesel bis in die obersten Etagen der Betonpaläste zog. Hinter den Frontscheiben zwängten sich ihre stämmigen Insassen so, dass man fürchten musste die Fahrerkabinen könnten bei einer unbedachten Bewegung platzen. Der Einstieg fiel den Behäbigen besonders schwer. Wenn sie versuchten die Armaturen zu fassen, um sich auf den Sitz zu ziehen, blieben sie im schmalen Trittbügel hängen und fingen an laut zu fluchen. Meistens waren sie die Beifahrer, wohl, weil das Führen des Vehikels einiges an Gelenkigkeit und Geschick erforderte. Ihnen war die Aufgabe zugedacht, als Erste aus der Kabine zu klettern, die Schaufel von den Lederriemen im Kabinenfond zu lösen, und den Kies aufzuladen, während die Lenker ihren körperlichen Vorteil nutzten und das Geschehen vom Seitenspiegel aus verfolgten. Ich fragte mich, welche Rolle mein Vater eingenommen hätte. Sobald ich zu einer tendierte, zog die andere umso stärker und je mehr ich mich auf dieses Gedankenjojo einließ, desto klarer wurde mir, dass ich eigentlich nie wusste, welcher Beschäftigung mein Vater früher nachging. Aus den wenigen Andeutungen, die er vor meiner Mutter beim Abendessen fast verschämt hatte fallen lassen, schloss ich, dass es etwas Unangenehmes gewesen sein musste, und seine Grimassen, die er in dem Moment zog da meine Mutter sich wieder dem Braten zudrehte, ließen keinen Zweifel daran. Sie fragte wie ein Bohrer, drang nur so tief ein wie es für eine ausreichende Antwort brauchte und setzte an der nächsten Stelle an. Er antwortete präzise, oft zweisilbig, ergänzte nur wenig und verbarg vor ihr seine Zerbrechlichkeit, die andere ihm so nicht ansahen. Wenn er seinen massigen Leib bewegte, dann hatte es etwas Trotziges, Unnahbares, vor dem man besser flieht als sich ihm in den Weg zu stellen. Unterhalb seiner Brust sammelten sich die ausladenden Speckfalten, die von einem Unterhemd nur mit Mühe bedeckt wurden, und in die ich mich als Mädchen hineingrub, wenn ich meiner Mutter Schande bereitet hatte, was nicht allzu selten vorkam. Über all dem thronte sein übergroßer Kopf, einem Feldkürbis gleich, der die Geschehnisse um sich herum mit einigem Argwohn beobachtete. Ich kann mich nicht daran erinnern, ob es je einen Tag im Jahr gegeben hätte, an dem er nach dem allabendlichen Verhör nicht an unserem Saporoshez schraubte. Das kontinentale Klima hatte dem Wagen über die Jahre sichtbar zugesetzt, aber mit der Geduld, mit der er meiner Mutter beharrlich das antwortete, was sie hören wollte, besserte er auch den Lack aus, prüfte, zog nach, und strich am Ende mit öligen Händen sanft über die Scheinwerfer, als wollte er seine Treue auf eine Art ausdrücken, die der Sapo sicher verstehen würde. Ich beobachtete ihn dabei stundenlang, folgte mit angemessener Distanz seinen Schritten, ahmte seine Handbewegungen nach, es hatte etwas Beruhigendes, ja fast Andächtiges. Gelegentlich durfte ich assistieren, wie er sich leicht übertrieben ausdrückte, und reichte das geforderte Werkzeug mit einigem Stolz. Ich muss dabei so ernst geschaut haben, dass er in großes Gelächter ausbrach, das sich durch seinen Körper wie ein Beben ausbreitete.

Es war der sechste November in Folge, den ich in Chişinău verbrachte und mit der Zeit hatte sich eine Geübtheit gewickelt, die nicht nur den Ablauf der Dinge, sondern auch das Zwischenmenschliche verknöchern ließ. Zwei Stunden vor Abfahrt stopfte ich alles in die alte Tragetasche meiner Mutter, deren Kunstleder mit jedem Winter mehr aufriss und den Blick freigab auf die darunter liegenden Schichten. Als meine Tante, die jüngere Schwester meiner Mutter, sah wie ich mit letzter Kraft den Verschluss zuzog, bot sie mir ihre Reisetasche an; „echtes Leder, nimm sie doch Kind“ wie sie nicht aufhörte fast flehend zu wiederholen, als hätte sie bei mir etwas gut zu machen. Ich wollte nichts aussortieren, weil es nicht mehr glänzte, oder aus irgendeinem anderen unwichtigen Grund nicht mehr gebraucht wurde. Ich empfand das als zutiefst unanständig. Sie verstand mich nicht, wie auch sonst niemand verstand, dass ich Jahr für Jahr meine gesparten Lei für eine Fahrkarte ausgab, um meinen Vater zu finden, was schon deshalb aussichtslos war, weil ich nicht wirklich Anhaltspunkte hatte, wo nach ihm zu suchen wäre. Die kleinen Zettel mit vagen Informationen über sein Leben der vergangenen Jahre, von denen ich bei jeder Rückkehr mehr mitbrachte, waren da nicht mehr als versehentliche Hoffnungsschimmer. Anfangs hatte ich sie von flüchtigen Bekannten und Arbeitsgenossen meines Vaters zugesteckt bekommen, einmal gar von einem Brigadeleiter, aber irgendwann schrieb ich sie selbst, um die Absurdität all dessen von meinen klaren Gedanken abzuschotten. Nach der Sache mit meiner Mutter hatte mein Vater eilig das Nötigste in den Wagen gepackt, und verließ den Hof, dessen Schindel in der spätherbstlichen Sonne röter als sonst schienen. Ich hatte von all dem wenig mitbekommen. Die letzte warme Luft im Jahr wehte ins Haar, wenn ich auf der Schaukel nach vorne schwang, und das goldene Gras auf unseren Wiesen stand meterhoch.

Sobald ich den Motor eines Kipplasters hörte, sprang ich aus dem Schlafsack, den mir meine Cousine jedes Jahr mit einem schnodderigen „Hier!“ in die Hand drückte. Er war ausgeschlagen mit blasstürkiser Wolle, überzogen von einer blauen Polyesterschicht und gehörte meinem Vater, lag aber nach seinem Weggang eigentlich nur noch auf dem Dachboden. Ich rannte zum Fenster und hockte mich andächtig unter den Holzsims, und nachdem sich Kolja zur Wand gedreht hatte, öffnete ich den Spalt ein wenig und steckte den Kopf vorsichtig heraus, um nicht selbst gesehen zu werden. Jetzt, im blaukalten November, ließen wir die aufgeheizte Luft der permanent laufenden Heizkörper nachts durch einen Fensterspalt entweichen. Das orangene Licht der Straßenlaternen, die immer zwischen zwei Häuserblocks wie auf eine Schnur aufgefädelt waren, wogte sanft im Wind, sodass der Lichtkegel immer eine andere Stelle beleuchtete. Von hier oben konnte ich den ganzen Straßenzug überblicken. Kolja war eine dieser zwischenmenschlichen Verknöcherungen. Vor ihm waren es Viorel, Liviu, Sorin und Horia gewesen. Die dazwischen hatte ich vergessen, obwohl sie sich nicht von den anderen unterschieden, ja, sogar besser gewesen sein mochten.

Bei meinen ersten Fahrten nach Chişinău hatte es nach der Ankunft noch etwas gedauert, bis ich meine Unterkunft kennen lernen sollte. Für gewöhnlich schlug ich die Zeit tot, indem ich am Bahnhof zwischen den Reisenden hindurch schlüpfte und nur den Männern an die Schultern tippte, die in feinen Anzügen und gut gefetteten chaussures auf ihren Zug warteten. Einige verzogen ihre Münder, aber ereiferten sich nicht weiter oder bedeuteten mit irgendeiner anderen Geste, dass ich verschwinden sollte. Die meisten jedoch blickten suchend um sich und begannen zu schmunzeln, als sie mich sahen. Ich warf ihnen ein freches Lächeln zurück und der ein oder andere kam daraufhin zu mir herüber, stellte sich mit Namen vor, sprach von wichtigen Geschäften in Kiev oder Verhandlungen in Bukarest. Ich hielt unsere Unterhaltung mit wenigen Einwürfen am Laufen, bejahte fortwährend ihr Aussagen und sie schienen zufrieden, jemanden gefunden zu haben, der ihnen zuhörte. In dem Augenblick da ihr Zug aufgerufen wurde und sie mir den Rücken zuwandten, zog ich ihnen dann ein paar Lei aus den Hosentaschen, um mir in der großen Vorhalle eine Tüte Suschki zu kaufen, denn der Hunger drückte zu dieser Tageszeit leicht, aber schon unangenehm auf die Schläfen, sodass mir schwindelig wurde. Als ich am Ende des Tages von all der Not atmen zu müssen müde auf eine Bank sank, kamen auch die letzten Züge in Chişinău an und mit ihnen die Schaffner, die hier eine oder gar mehrere Nächte bis zum nächsten Dienst verbrachten. Es fand sich immer einer, der mich mit scharfem Ton darauf hinwies, dass ich hier nicht bleiben könnte, da die Anlage nachts zugesperrt würde. Ich fing an zu erklären, und schon nach wenigen Sätzen boten sie mir einen Platz in ihren Stuben in den Klötzen von Rîşcani oder Ciocana an, wobei sie sich vor mir wie ein Pfau aufbauten, um mir zu zeigen, dass ich nicht umhin kommen würde einzuschlagen. Manchmal waren es gleich mehrere, die sich vor mir stritten, wer das Recht hätte mir einen Platz anzubieten. Man einigte sich auf den Ältesten. Sie waren alle älter als ich und ich lehnte nie ab.

Kolja hingegen traf ich schon während der Fahrt und nicht lange nachdem wir ausgestiegen waren, fragte er, wo ich denn schlafen würde, als er sich sicher sein konnte, mich würde hier wie auch in den Jahren zuvor wohl niemand abholen oder mich auch nur kennen. Es war weniger eine Frage, die nach einer Antwort suchte, sondern eher eine Aufforderung. Ich umarmte ihn flüchtig, küsste schüchtern seine linke Wange und roch den abgestandenen Schweiß unter seinen Achseln, sagte aber nichts. Ihm war es wohl unangenehm, zumindest stieß er hastig „das heiße Abteil“ aus und ich nickte zustimmend. Wir liefen neben einander her, sodass sich unsere Hände gelegentlich berührten, woraufhin ich den Abstand zwischen uns wieder größer werden ließ. Kolja erzählte, dass er in einem der Schlafklötze in Ciocana wohne, Endhaltestelle, oberste Etage, man könnte sogar die Catedrala Naşterea Domnului und den Parcul Catedralei sehen, wenn der Nebel nicht schwer über der Stadt liegen würde und das tue er im November immer. Die Nächte sind dann gleich gut der Tage, weder hellklar noch dunkeltrüb, ein wenig abgestanden wie das Wasser am Schilf eines alten Dorfteichs. Er fügte Satz an Satz zu Geschichten über kleine Lokale mit gelben Markisen, bei denen man nicht mehr wüsste, ob das Gelb gewollt war oder der Stoff über die Jahre diese Farbe angenommen hätte, über Spatzen, die Suschki klauen, während man abwesend im Tee rührt und dass von hier aus Istanbul näher sei als Moskau. Ich klebte an dem Braun seiner Augen, schloss meine für einige Sekunden, ein wenig länger als das übliche Zukneifen wenn Sonne den Schnee noch ein wenig weißer scheinen lässt, und fand mich in dem Knick zwischen Oberarm und Brust wieder, inhalierte tief seinen Schweiß, während das Kitzeln der groben Wolle an meiner Stirn mich an meinen Vater erinnerte. Ich blieb meistens stumm, verriet ihm nicht, dass ich schon im vergangenen Jahr in Ciocana geschlafen hatte, ließ ihn auch im Unklaren darüber, was ich hier wollte, würde auch später nichts sagen, er fragte auch nicht, er stellte nie Fragen.

Im Morgengrauen machten die Kipplaster in unserer Straße halt, was mich verwunderte, denn die strada Uzienlor war lediglich eine Ausfallstraße zu den Kiesgruben am Rande der Vororte, sodass es für sie keinen Grund gab hier auch nur zu verlangsamen. Sie stoppten nacheinander, bildeten eine Reihe wie auf dem bulevard Stefan cel Mare und Ortsunkundige hätten leicht glauben können, dass sich ihr Zentrum verlegt hätte, weil sie fanden die strada Uzinelor sei ein günstigerer Ausgangspunkt. Mir fiel auf, dass sie enger standen als sonst, als verkörpere jeder der Dunkelgrünen das Glied einer Kette, die sich mit jedem Ankömmling verlängerte bis das Ende nicht mehr zu sehen war. Nach einigen Minuten Stille fing das Fluchen an und hüpfte von Wagen zu Wagen in Richtung Centru. Ein gleichmäßiges Brummen erfüllte den Raum zwischen den Betonklötzen, das nach und nach rhythmisch vom Klopfen der Schippen an die Seitenbleche begleitet wurde. Auch die letzten Beifahrer sprangen nun von ihren Sitzen, öffneten die Lederriemen im Kabinenfond, und schlugen im Takt der anderen. Nicht wenige Lenker versuchten sie zu beruhigen, trugen aber so manche Kopfwunde davon, während die Feiglinge unter ihnen in den Kabinen blieben und zitternd auf den vorderen Kipper starrten. Die Mutigen jedoch lösten ihre eigene Schippe, die sie seit Jahren nicht mehr benutzt haben mögen und stimmten mit ein. Und obwohl der Lärm ohrenbetäubend war, hatte er etwas eigenartig Meditatives. Ich ließ mich neben Kolja auf den Boden fallen, legte meinen Kopf vertraut unter seine linke Achsel, atmete denselben Geruch wie am Bahnhof, und stellte mir vor wie ich jeden Abend am bulevard auf meinen Vater wartete. Mein Herz schlüge so, dass es sich leicht unter Großmutters Strickjacke abzeichnen würde, wenn das Blut mit starken Stößen in den Kopf gepumpt wird. Die Augen öffnete ich erst, als das gleichmäßige Klopfen des Diesels verstummte. Und dann könnte ich ihn beobachten, wir er beinahe majestätisch mit strengem Blick die Armaturen kontrolliert, die Augen nur einen Spalt weit geöffnet. Sein Körper spannte unter der verblassten Uniform, und wenn er die kleine Tür öffnet, hielte er die Schippe schon in der Hand.